Interview with Milagros Mumenthaler
Über ihre literarischen Inspirationsquellen
16.09.2025
Die schweizerisch-argentinische Regisseurin feierte die Weltpremiere ihres dritten Spielfilms THE CURRENTS (LAS CORRIENTES) am TIFF. Der Film lief anschliessend am Filmfestival von San Sebastian und wird auch am New York Film Festival zu sehen sein. Mumenthaler ist eine von 14 Regisseurinnen, die für das Programm EUROPE! VOICES OF WOMEN+ IN FILM der European Film Promotion ausgewählt wurden und ihren Film am Busan International Film Festival präsentieren.
In der Eröffnungsszene von LAS CORRIENTES blickt die Protagonistin in Genf durch ein grosses Fenster auf den Fluss – war dieser Blickpunkt auch Ihrer, als Sie sich den Film vorgestellt hatten?
Genf ist ein Stück meiner Biografie – es war mein Zuhause, als meine Familie während der argentinischen Militärdiktatur ins Schweizer Exil ging. Ich habe Siri Hustvedts «The Shaking Woman» gelesen, wo sie von einem ungewöhnlichen Erlebnis erzählt: Während einer Rede zum Gedenken ihres Vaters, beginnt ihr Körper plötzlich unkontrolliert zu zittern, aber sie spricht unbeirrt weiter. Etwas Seltsames ist ihr passiert: Ihr Geist funktioniert, der Körper aber gehorcht ihr nicht. Dieser Widerspruch hat mich lange beschäftigt. Aus ihm ist Lina entstanden – eine Frau, deren Verhalten sich nicht eindeutig erklären lässt.
In «Las Corrientes» kehrt ein formales Thema zurück, das bereits in Ihren früheren Spielfilmen vorherrschte. Wie lässt sich Intimität darstellen? Wie verleiht das Kino etwas Gestalt, das eher zur Literatur zu gehören scheint?
Mich interessierte Linas inneres Erleben: ihre Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte. Aber Drehbuchschreiben und Drehen sind zwei verschiedene Sprachen. Also musste ich eine effiziente filmische Übersetzung finden. Besonders geholfen hat mir dabei die Lektüre von Virginia Woolfs «Mrs. Dalloway», wie dort der Bewusstseinsstrom zwischen den Figuren fliesst. Auch in LAS CORRIENTES bleibt unklar: Sehen wir reale Handlungen – oder Linas Projektionen? Dieses Spiel mit der Ambivalenz fand ich spannend. Wichtig war mir zugleich, dass Lina sich erlaubt. Ich traf die bewusste Entscheidung, den Film mit einem Rätsel beginnen zu lassen und es durch die gesamte Erzählung hindurch aufrechtzuerhalten.
Lina wirkt, als sei sie ständig auf der Flucht: vor sich selbst, der Vergangenheit, ihrer Familie. Warum?
Sie ist eine Figur, die nicht weiss, wo sie hingehört. Sie hat ihre Herkunft hinter sich gelassen und passt nirgendwo hin. Ihr Anker ist losgerissen, sie treibt seit Langem umher – und im Film wird dieser Zustand sichtbar. Sie ist eine widersprüchliche Figur: mutig genug, sich dem was passiert, nicht zu widersetzen, aber unfähig, etwas direkt zu konfrontieren. Sie macht einfach weiter.
Die Verleugnung der eigenen Herkunft – ist das nicht ein typisch argentinisches Muster? Spiegelt sich das in «Las Corrientes»?
Das war kein bewusster Entscheid. Aber es gibt zweifellos ein Geheimnis, ein Trauma, ein instinktives Bedürfnis vor etwas zu fliehen, sich neu erfinden zu müssen. Aus Cara wurde Lina. Sie wollte auf keinen Fall enden wie ihre Mutter. Sie konnte und wollte nicht in diesen Spiegel blicken. Als Tochter hatte sie die Erfahrung des Verlassenwerdens bereits gemacht. Lina weigert sich, dieses Verhalten, dieses familiäre Erbe zu wiederholen. Jede Deutung ist erlaubt.
Auffällig ist die starke weibliche Präsenz: nicht nur durch Lina, sondern auch durch die traditionellen Attribute, die für Weiblichkeit stehen. Wie fanden all diese Elemente Eingang in den Film – und warum?
Besonders die Stickerei hat mich fasziniert: ein fragiles Handwerk, das Frauen seit Jahrhunderten betreiben, immer kurz vor dem Verschwinden, aber doch immer noch present ist. Ein antikes Stickbild, welches Lina in einem Laden findet, weckt etwas aus ihrer Vergangenheit und transportiert sie in die Welt ihrer Mutter, der sie eigentlich entfliehen wollte. Ein Erbe, das sich nicht so leicht abschütteln lässt.
Lina scheint von einer Sehnsucht, einer Unruhe getragen zu sein, die den ganzen Film durchdringt. Wie hat diese romantische Sensibilität Ihre Konzeption des Films beeinflusst?
Lina will alles richtig machen: eine gute Ehefrau und Mutter, Familie, Berufstätigkeit. Doch ihre äussere Welt stürzt in eine Krise, durch das, was sie innerlich erlebt. Ein innerer Konflikt, der Lina beschäftigt: Sie will sich lebendiger fühlen und ein tieferes Verständnis des eigenen Selbst Erlangen.
Wie sind Sie die Schlüsselszene im Palacio Barolo von Buenos Aires angegangen?
Diese Szene ist unmittelbar von Virginia Woolfs «Mrs. Dalloway» inspiriert. In diesem Moment sind wir bei Lina, aber gleichzeitig auch bei anderen Figuren – oder Projektionen ihrer selbst auf diese Figuren, die alle vom kreisenden Licht beleuchtet werden, das über die Stadt streift. Und alle Wege führen gewissermassen zurück zur ungelösten Vergangenheit, der sich Lina stellen muss.
Wann kam Isabel Aimé González Sola ins Spiel, die Lina verkörpert?
Ich wollte kein bekanntes Gesicht, das seine eigene Persönlichkeit unweigerlich in die Rolle einbringt, sondern vielmehr eine Person mit einer Aura des Rätselhaften, des Geheimnisvollen. So begannen wir, nach argentinischen Schauspielerinnen zu suchen, die im Ausland leben – und stiessen auf Isabel. In Frankreich stand sie bereits seit längerem auf der Bühne und spielte auch in Film- und TV-Produktionen. Sie verkörperte genau, wonach ich gesucht hatte.
Ich liebe es, mit Schauspieler:innen zu arbeiten, gemeinsam Figuren zu entdecken und entwickeln. Isabel ist Lina in vielerlei Hinsicht völlig unähnlich – und doch trägt sie dieses absolute Geheimnis in sich, das sie unmittelbar mit der Protagistin verbindet.
Interview: von Luciano Monteagudo, bearbeitet durch SWISS FILMS. Mit Genehmigung von Luxbox.